Thüringer Allgemeine Zeitung, 08.03.2002 

Die Balance verloren

Beim heute in Weimar beginnenden Deutschen Kongress für Kinder- und Jugendmedizin geht es um übergewichtige Kinder. Nach den weltweit am weitesten zurückreichenden Messreihen, die Jenaer Anthropologen 1880 begannen, ist beispielsweise ein 14-jähriger Junge heute nicht nur 21 Zentimeter größer als ein gleichaltriger 1880, sondern im Schnitt auch 17 Kilo schwerer. Mehr noch. Fast zehn Prozent der Schulkinder haben Übergewicht, leiden an Adipositas, an Fettsucht.

Nein, ihre Klassenkameraden hatten nicht gelästert, wenn Marie an der Kletterstange hing wie ein Zementsack. Oder wenn sie den Umschwung am Stufenbarren wieder und wieder vergeblich versuchte. Wie sollte das die 10-Jährige auch schaffen. Mit 63 Kilo Gewicht, bei ganzen 1,47 m Größe. "Marie hat ihre Gefühle natürlich versteckt." Mutter Kerstin weiß mehr. Von bösen Rufen auf der Straße. Oder wie sie ihre große schlanke Schwester anschaut. Und dabei sagt: "So schön will ich doch gar nicht aussehen."

Das ändert sich oft schon mit 14. Befragungen zufolge würden 63 Prozent gern besser aussehen und 56 Prozent wären gern dünner.

Familie R. war wegen ihrer Kleinen, die mit so viel Appetit aß, schon oft in der Gothaer Kinderklinik. Im November 2000 hatte Marie einen Bodymaß-Index von 29 erreicht. Also den "stark adipösen Bereich", wie Kinderärztin Dr. Corona Jakob-Krech sagt. Dazu klagte das Mädchen über schmerzende Kniegelenke.

Hilfe gab dem Mädchen das interdisziplinäre Behandlungsprogramm für übergewichtige Kinder. Es ist in ganz Thüringen bisher einzigartig und unterstützt Kind und Familie über ein Jahr. Die Freiberger Uni-Klinik entwickelte das Programm und brachte es in Gotha auf den Weg. Mit 11 anderen Kindern, unter ihnen ein XXL-Junge, er ist elf und wiegt 78 Kilo, hat Marie hier drei Mal in der Woche Sport. "Spiele, Gymnastik, Schwimmen, aber auch Ausdauertraining." Dazu kamen Ernährungs- und Verhaltensschulungen für Kind und Eltern. Alle sechs Wochen war "Kinder-Kochen" unter Anleitung von Diätassistentin Gabriele Großmann. Die Eltern lernten neue Rezepte kennen. Zu Maries Geburtstag gab es dann für Julia, Katja, Josefine keine Pommes mit Majo, sondern Gemüse-Dips mit Quark und Joghurt.

Marie hat so 10 Kilo abgespeckt. Und keine Gelenkbeschwerden mehr. "Elf Liegestütze habe ich bei der letzten Leistungskontrolle beim Schulsport geschafft. Diese 3 hätte ich früher nie erreicht." Marie gehört einer Altersgruppe an, die stark wächst und deshalb Chancen hat, noch eine gute Figur zu machen. Aber dazu muss sie an der Erkenntnis festhalten, dass sie selbst für ihren Umfang verantwortlich ist, sagt ihre Ärztin. 80 Prozent der übergewichtigen Zehn- bis 13-Jährigen sind auch als Erwachsene dick. Von der Gruppe nahm ein Drittel ab. Zwei Drittel, die sonst jedes Jahr acht bis zehn Kilo zugelegt hatten, hielten ihr Gewicht.

Solche rechtzeitig wirkenden Abnehme-Zentren sollte es in jeder größeren Thüringer Kommune geben, sagt der Gothaer Chefarzt Dr. Klaus-Peter Ullrich. Die Kosten von rund 1500 Euro zahle außer der AOK jede Kasse, auf die Eltern kommen etwa 25 Euro pro Monat zu. "Das ist uns eine glückliche Marie ohne seelischen Knacks natürlich wert", sagt die Mutter. Aufgeklärte Eltern wissen, dass kindliche Adipositas Ursache für viele Erkrankungen im Erwachsenenalter ist, wie Bluthochdruck, Diabetes und Arthrosen. Wie aus einer unveröffentlichten Untersuchung hervorgeht, wird in jüngster Zeit schon bei übergewichtigen Kindern die so genannte Altersdiabetes diagnostiziert. 35 Prozent haben infolge zu fetter und kohlehydratreicher Ernährung bereits eine Anlage zu Typ-II-Diabetes, bei fünf von 1000 Kindern ist Diabetes bereits ausgebrochen. Steigerungsrate: beträchtlich.

Nach in Jena neu berechneten Normkurven, die auf aktuellen Messdaten fußen, erweisen sich zehn Prozent der Kinder als übergewichtig. Das wären in Thüringen mehr als 30 000, unter denen die absolut gefährdetsten behandelt werden müssten. Eine Aufgabe, die von rund 200 Kinderärzten, den 51 Jugendärzten und drei Spezialsprechstunden von Kinderkliniken mit Dr. Gabriele Sauerbrei in Erfurt, Dr. Klaus-Peter Ullrich in Gotha und Prof. Eberhard Kauf, Jena, nicht annähernd zu lösen ist.

Vom Schulsport erwarten die Mediziner dabei am wenigsten. Der habe "generell versagt", meint Chefarzt Ullrich. Allein 1460 Stunden Ausfall in der letzten Stichwoche im November 2001, so viel wurde keinem anderen Fach zugemutet.

"Wir können nur untersuchen und beraten", sagte die Erfurter Kinderärztin Dr. Karin König. "Lasst das süße Zeug, trinkt Wasser. Sitzt nicht jeden Tag Stunden am Computer. Bewegt euch." Nur so ist verlorene innere Balance zurückzuholen.

Heilkuren wie in der Klinik "Am Kyffhäuser" oder im "Sonnenschein" Heiligenstadt helfen nur auf Zeit, wenn es dann im alten Trott weitergeht. Dabei kostet die Adipositas-Behandlung über sechs Wochen 3500 Euro. Mit zuletzt 190 Kuren pro Jahr hat allein die LVA ihr Angebot hier seit 1994 verdoppelt. Kostenlos sollen auch die AOK-Kurse für leicht übergewichtige Kinder von 6 bis 10 Jahren samt ihren Eltern sein, die im April angeboten werden. Denn allein kann es kein Kind schaffen.

07.03.2002   Von Jürgen REICHENBÄCHER



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