Hannoversche Allgemeine Zeitung, 26.10.2001 

Von Embryonen und Insulinzellen

In unserer Serie „Forschung in Deutschland“ stellen wir in lockerer Folge hochrangige Forschungsinstitute und ihre Arbeit vor. Heute: das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen. Ein wenig verborgen liegt es schon, das Max-Planck-Institut (MPI) für biophysikalische Chemie am nordöstlichen Rand von Göttingen, dessen sechs „Türme“ weit über das Tal unter dem Faßberg blicken. Mehr als 600 Mitarbeiter sind in dem 1971 gegründeten Wissenschaftsbetrieb tätig, dessen biologisches Forschungsspektrum von der Entwicklungsbiologie bis zur Molekulargenetik reicht. Ursprünglich sollten die Wissenschaftler am Göttinger MPI mit physikalisch-chemischen Methoden wie Spektroskopie oder Elektronenmikroskopie nach Antworten auf biologische Fragen suchen. Heute reichen die Arbeitsgebiete des interdisziplinären Institutes noch darüber hinaus: von der Physikochemie elementarer Reaktionen bis zur molekularbiologische Betrachtung des Hormonhaushaltes.

Wenn es nach Prof. Peter Gruss geht, können Diabetiker in Zukunft möglicherweise auf ihre tägliche Insulinration verzichten. Stattdessen könnte eine entsprechende regenerative Therapie – also eine Gewebeersatztherapie – die gestörte Insulinproduktion in der Bauchspeicheldrüse wieder ins Lot bringen, meint der Biologe, der am Göttinger MPI die Abteilung Molekulare Zellbiologie leitet. Wie das Ganze praktisch funktionieren könnte, erforschen Gruss und sein Team derzeit am Modellorganismus Maus.

Prof. Peter Gruss erläutert ein mikroskopisches Präparat
Foto: MPI
Beim gesunden Menschen produzieren die so genannten Beta-Zellen aus der Bauchspeicheldrüse ausreichend Insulin, um den Blutzuckerspiegel niedrig zu halten. Funktionieren sie nicht mehr, entsteht Diabetes, und der Betroffene muss Insulin zuführen, um den Zuckergehalt seines Blutes zu kontrollieren. Gruss’ Therapieidee beruht auf den genetischen Mechanismen, die dafür sorgen, dass undifferenzierte Zellen im Laufe der Embryonalentwicklung zu Bauchspeicheldrüsengewebe werden. Beim erwachsenen Diabetiker könnten etwa embryonale Stammzellen oder auch die in der Bauchspeicheldrüse selbst vorhandenen erwachsenen Stammzellen zu Insulinproduzenten „umprogrammiert“ werden, sagt Gruss.

Notwendig ist dafür – das konnten die Göttinger und weitere Forscher an Mäusen zeigen – das so genannte Pax4-Gen. Wird es angeschaltet, sorgt es dafür, dass die Zellen, in denen es aktiv ist, zu insulinproduzierenden Zellen werden. Nur: Wie schaltet man das Pax4-Gen an? Die Lösung des Problems besteht laut Gruss wahrscheinlich in einer chemischen Substanz, möglicherweise einem Wachstumsfaktor. Und genau danach suchen die Biologen am MPI. Darüber hinaus erforscht Gruss’ Abteilung, wie sich das Nervensystem von Säugetierembryonen entwickelt, welche Gene für die Augen- und Ohrenausbildung wichtig sind, und wie die Aktivität von Genen gesteuert wird.

Auch die Abteilung Molekulare Entwicklungsbiologie von Gruss’ Kollegen Prof. Herbert Jäckle ist den Regulationsmechanismen von Genen während der Embryonalentwicklung auf der Spur – allerdings in einem Stadium, wo von Organen noch keine Rede sein kann. Als Forschungsobjekt dienen der Jäckle-Gruppe sehr junge Embryonen der Taufliege Drosophila. Dieses Insekt sei auf der Genebene relativ gut mit dem Menschen vergleichbar, erklärt Jäckles Mitarbeiter Ronald Kühnlein.

Bei ihren bisherigen Versuchen konnten die Forscher bereits einen guten Überblick darüber gewinnen, wie die Ausbildung von Körpersegmenten im Fliegenembryo funktioniert und welche Gene daran beteiligt sind. „Die Zellen wissen anfangs nicht, wo sie im Organismus liegen. Dafür brauchen sie Koordinateninformationen“, sagt Kühnlein. Jäckle konnte nachweisen, dass schon zu Beginn ein Proteingradient im Ei entsteht, der den entstehenden Embryonalzellen bei der Positionsbestimmung hilft.

Anschließend werden in einer Kettenreaktion über so genannte Transkriptionsfaktoren weitere Segmentierungsgene aktiviert, die den Kopf zum Kopf und den Hinterleib zum Hinterleib werden lassen. „Was man noch nicht verstanden hat, ist: Wie wird die Information von den Transkriptionsfaktoren auf die Gene übertragen?“, erläutert Kühnlein. Dies sei jedoch für das molekulare Verständnis der Genregulation unabdingbar. „Es geht darum zu erfahren, wie und wann Gene angeschaltet werden“, sagt der Biologe. „Ob im Fliegenembryo oder im menschlichen Krebstumor.“


Nicola Zellmer

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