Betreuung der Diabetiker in Niedersachsen und Bremen

 

Statement des Fachverbandes Diabetes Niedersachsen/Bremen
Landesverband der Deutschen Diabetes-Gesellschaft

Volkskrankheit Diabetes

Die ärztliche Betreuung

Anforderungen an die Struktur- und Prozeßqualität
Organisation der Diabetikerbetreuung
Tabellen
Kommentar

 

 

Deutsche Diabetes Gesellschaft


Volkskrankheit Diabetes

 

 

Die Volkskrankheit Diabetes mellitus ist eine der häufigsten Ursachen für Krankheit und Mortalität in unserer Bevölkerung. In Niedersachsen und Bremen leben über 400 000 Diabetiker (ca. 20 000 mit dem insulinpflichtigen Diabetes Typ 1 und ca. 400 000 mit dem Diabetes Typ 2). Jährlich wird bei über 500 Patienten ein Diabetes Typ 1 und bei 30 000 ein Diabetes Typ 2 neu diagnostiziert. Nach Schätzungen dürfte sich die Zahl der Diabetiker bis zum Jahr 2010 verdoppeln.

Nicht oder unzureichend behandelte Patienten weisen eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit, verminderte Lebensqualität und reduzierte Lebenserwartung auf, haben einen hohen Krankenstand und verursachen der Versichertengemeinschaft erhebliche Kosten. Vor allem die spezifischen Folgekrankheiten des Diabetes (Retinopathie, Nephropathie, Neuropathie und die beschleunigte Rate an Herzkreislauferkrankungen), die bei guter Stoffwechseleinstellung prinzipiell vermeidbar sind, sind dafür verantwortlich.

Man muß davon ausgehen, daß z.Zt. in Niedersachsen und Bremen als Folge eines unzureichend behandelten Diabetes jährlich ca. 2500 Amputationen durchgeführt werden, ca. 400 Diabetiker neu erblinden und daß derzeit bei ca. 1.500 Diabetikern eine Dialyse erforderlich ist.

Bei 40% der Frauen und Männern gilt der Diabetes als eine wesentliche Ursache eines Herzinfarktes. 70% aller Todesfälle durch Schlaganfall stehen in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Vorliegen eines Diabetes.

Für jeden Diabetiker ist deshalb zu fordern:

  1. die frühzeitige Diagnosestellung
  2. möglichst die normnahe Stoffwechselführung zur Wiederherstellung und Erhaltung von Leistungsfähigkeit, Wohlbefinden und Vermeidung von Folgeschäden
  3. die frühzeitige Schulung (dem Diabetestyp, der Lebenserwartung, der Therapie und den persönlichen Voraussetzungen angemessen), um die absolut notwendige Mitarbeit des Patienten an der Behandlung sicherzustellen
  4. die Festlegung eines individuellen Behandlungskonzeptes und Therapiezieles

 


Die ärztliche Betreuung

 

 

Die ärztliche Betreuung

Diabetiker sollen von fachkompetenten Ärzten und Diabeteszentren betreut werden:

  • Hausarzt
  • diabetologische Schwerpunktpraxis/Diabetesambulanz
  • Diabetes-Zentrum mit stationärer oder teilstationärer Betreuung.

Grundsätzlich soll die kontinuierliche Behandlung durch den Hausarzt erfolgen, der bei besonderen Situationen (Tab. 2) eine spezialisierte Einrichtung hinzuziehen soll.

Aufgaben des Hausarztes

  • Früherkennung (Screening)
  • Sicherstellung der korrekten Diagnose und Einordnung des Diabetes
  • Sicherstellung einer für den Patienten angemessenen strukturierten Schulung
  • kontinuierliche Überwachung des Behandlungserfolges in Durchführung bzw. Veranlassung der regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen nach den Richtlinien der DDG
  • Erkennung und Veranlassung einer notwendigen .Mitbehandlung durch Spezialisten

Aufgaben einer diabetologischen Schwerpunkteinrichtung

  • sichere Einordnung des Diabetestyps
  • Aufstellung eines individuellen pathophysiologisch begründeten langfristigen Behandlungskonzeptes mit individuell festgelegten Therapiezielen
  • Durchführung der individuell angemessenen strukturierten Schulung des Patienten
  • Einleitung und Überwachung der Behandlung, bis das Therapieziel erreicht ist
  • Durchführung bzw. Veranlassung und Wertung weiterführender Diagnostik diabetischer Begleit- oder Folgeerkrankungen und deren Therapie

 


Anforderungen an die Struktur- und Prozeßqualität

 

 

Anforderungen an die Struktur- und Prozeßqualität

A. Der Hausarzt sollte

  • ausreichende Kenntnisse über die verschiedenen Diabetes-Typen und die sich aus der Diagnose ergebenden Behandlungskonzepte besitzen
  • ausreichende Erfahrung haben, Therapieziele mit dem Patienten individuell zu besprechen und zu überwachen
  • sichere Kenntnisse haben über die möglichen Auswirkungen der Therapie von anderen Erkrankungen auf den Diabetes mellitus
  • ausreichende Informationen besitzen über die unterschiedlichen, regional verfügbaren Schwerpunkteinrichtungen zur speziellen diabetologischen Mitbetreuung
  • sichere Kenntnisse haben, Indikationen zur Klinikbehandlung zu erkennen
  • Instrumentarien und Kenntnisse besitzen zur Durchführung und Überwachung von Therapiezielen sowie zur Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen (Mikroalbuminbestimmung, 01 - Labor, basale neurologische Diagnostik und Gefäßdiagnostik) (Tab. 1).


B. Eine diabetologische Schwerpunkteinrichtung hat folgende Voraussetzungen zu erfüllen:

  • ärztliche Leitung durch einen Diabetologen (DDG oder vergleichbare Qualifikation)
  • qualifiziertes Personal, d.h. mindestens eine Diabetesberaterin DDG bzw. Fachkraft mit vergleichbarer Qualifikation als Vollzeitkraft und eine Diätassistentin oder Fachkraft mit vergleichbarer Qualifikation
  • qualitätskontrollierte, sofort verfügbare Blutzuckermeßmethode
  • komplettes kontinuierliches Schulungsangebot
  • gesonderte Schulungsräume
  • Durchführung sämtlicher Therapievarianten incl. Pumpentherapie
  • Diagnostik und Therapie diabetischer Begleit- und Folgeerkrankungen
  • Zusammenarbeit mit einer qualifizierten Fußpflegerin und einem orthopädischen Schuhmachermeister
  • Zusammenarbeit mit einem klinischen Psychologen
  • Durchführung und Dokumentation qualitätssichernder Maßnahmen
  • Teilnahme an einem diabetologischen Qualitätszirkel

C. Für stationäre Einrichtungen ist zusätzlich erforderlich:

  • Betreuung in einem gesonderten Bereich mit ausreichender Fachkompetenz aller Mitarbeiter. Eine Anerkennung als Behandlungseinrichtung für Typ-1- und Typ-2-Diabetiker (DDG) ist als Beleg für Fachkompetenz und Ausstattung einer Einrichtung anzusehen.
  • Vorhandensein einer intensivmedizinischen Einheit zur Therapie des diabetischen Komas/Präkomas diabetologisch-angiologisch-chirurgische Kooperation (bei diabetischem Fuß)
  • spezialisierte psychologische Betreuung (z.B. bei Eßstörungen)
  • Kooperation mit weiteren Zentren zur Diagnose und Therapie von Folgeschäden (z. B. Dialysezentrum, Koronarangiographie, PTCA, Augenklinik)
  • 24-Stunden-Bereitschaft für Notfallaufnahme

 

 

Organisation der Diabetikerbetreuung

 

 

Organisation der Diabetikerbetreuung

  • Grundsätzlich soll die kontinuierliche Betreuung der Diabetiker durch den Hausarzt erfolgen.
  • Der Hausarzt hat die Aufgabe zu entscheiden, ob eine Mitbehandlung des Patienten zur Diagnostik, Schulung oder Therapie an einer Schwerpunkteinrichtung erforderlich ist (Tab. 2).
  • Es bestehen klare Indikationen für eine umgehende stationäre Aufnahme (Tab. 3). Für sämtliche anderen Gründe für eine diabetologische Mitbetreuung (Tab. 2) gilt aus Kostengründen, daß eine ambulante Behandlung einer stationären Behandlung vorzuziehen ist.
  • Bei der Entscheidung, ob eine spezialisierte diabetologische Betreuung ambulant oder stationär erfolgen kann, müssen die individuellen körperlichen und psychosozialen Bedingungen des Patienten mitberücksichtigt werden.
  • Spezialisierte diabetologische Einrichtungen haben die Aufgabe, zugewiesene Patienten nach ausreichender Diagnostik und Behandlung mit einem schriftlichen Befundbericht über die aktuelle Situation und mit konkreten Hinweisen auf ein langfristiges Behandlungskonzept sowie Definition eines individuellen Therapiezieles in die weitere hausärztliche Betreuung abzugeben.

In Niedersachsen und Bremen entstehen jährlich mindestens 2,5 Milliarden DM an Kosten für die Behandlung von Diabetikern, größtenteils bedingt durch die Folgekrankheiten einer ungenügenden Diabetes-Einstellung. Aufgabe aller Beteiligten am Gesundheitswesen ist es, die Betreuung der Diabetiker zu optimieren, um die Folgen einer unzureichenden Stoffwechselführung zu vermindern.

In der Region sind grundsätzlich die strukturellen Voraussetzungen zur Umsetzung eines solchen Betreuungsmodells für Diabetiker vorhanden.

Aufgabe der Kostenträger und der Selbstverwaltungsorgane der Ärzteschaft ist es,

  • die Qualität ärztlicher Behandlung auf den verschiedenen Behandlungsebenen einzufordern und zu überwachen,
  • den Aufbau diabetologischer Schwerpunkteinrichtungen vor allem für den ambulanten Bereich zu unterstützen und Diabetes-Zentren (ambulant und stationär) anzuerkennen, um allen Betroffenen die Möglichkeit einer individuell erforderlichen Betreuung in der erforderlichen Intensität zu ermöglichen,
  • den besonderen Aufwand einer Schwerpunkteinrichtung finanziell abzusichern und
  • die zentrale Bedeutung der hausärztlichen Betreuung für die Organisation der Behandlung in ausreichendem Maße zu honorieren.

 


Tabellen

 

 

Tabelle 1: Basisdiagnostik zur Therapieüberwachung und Vorsorge im Rahmen der kontinuierlichen diabetologischen Versorgung

Bei jedem Patientenkontakt
  RR, Besprechung der Selbstkontrolldaten und Motivierung zur weiteren kontinuierlichen Selbstkontrolle zum Erreichen des individuellen Therapiezieles
einmal/Quartal
  HbA1c, Gewicht
einmal/Jahr
  Fußkontrolle mit Prüfung des Schuhwerkes, Fußpulse, neurologische Basisuntersuchung (Prüfung des Vibrations- und Berührungsempfindens, gezielte Fragen nach Ausfällen im autonomen Nervensystem (Potenz, Kreislaufsymptomatik, abdominelle Symptomatik), Mikroalbuminbestimmung im Urin, Serumkreatinin, Lipidstatus, Überweisung zum Augenarzt
Die Daten der Basisdiagnostik müssen schriftlich z. B. im Gesundheits-Paß Diabetes fixiert werden. Die Frequenz der Untersuchungen ist bei pathologischen Befunden zu steigern.

 


 

Tabelle 2: Situationen, in denen eine diabetologische Schwerpunkteinrichtung hinzugezogen werden soll

  • bei Diagnosestellung zur korrekten Einordnung des Diabetes, zum Aufstellen eines langfristigen Therapiekonzeptes und zur strukturierten Schulung und Erstbehandlung (Ausnahme Diabetiker Typ 2 ohne signifikantes Risiko, Spätkomplikationen zu erleiden)
  • bei Nichterreichen des Therapiezieles (HbA1c > 7,5 %, durchschnittlicher Blutzucker > 150 mg/dl bzw. individuell begründetes Therapieziel überschritten)
  • bei (geplanter) Schwangerschaft
  • bei Gestationsdiabetes
  • bei schweren Hypoglykämien
  • bei Auftreten oder Progredienz diabetesbedingter Folgeerkrankungen
  • bei besonderen Therapieformen, Insulinpumpentherapie, bedingt bei intensivierter Insulintherapie, Einsatz von Insulinanaloga
  • bei unzureichenden Kenntnissen zu erneuten Schulungsmaßnahmen
  • bei konstanter Mikroalbuminurie und/ oder arterieller Hypertonie (RR in Ruhe > 140/90 mm Hg) trotz Behandlung
  • bei manifester, nicht ausreichend behandelter Fettstoffwechselstörung
  • bei Änderung von Lebensumständen, die eine deutliche Änderung des Behandlungskonzeptes erforderlich machen.

 


 

Tabelle 3: Indikationen für eine stationäre Versorgung in einer diabetologischen Fachabteilung

Eine Indikation zur stationären Versorgung ist gegeben, wenn die ambulanten Möglichkeiten der Betreuung ausgeschöpft sind und die Tag- und Nachtbetreuung durch besonders geschultes ärztliches, pflegerisches und medizin-technisches Personal erforderlich ist.

  • Koma/Präkoma*
  • schwere Stoffwechselentgleisung z.B. im Rahmen von Infekten
  • häufige, schwere nächtliche Hypoglykämien
  • Therapieumstellung bei Hypoglykämiewahrnehmungsstörungen
  • ausgeprägte Insulinresistenz, die eine intravenöse Insulingabe erforderlich macht
  • infizierter diabetischer Fuß neuropathischer oder angiopathischer Genese
  • chronisches Nierenversagen bei Nephropathie (zur Therapieeinleitung)
  • Ersteinstellung auf Insulin, wenn die individuellen körperlichen, geistigen oder psychosozialen Bedingungen des Patienten eine ambulante Betreuung verhindern
  • besondere psychische Bedingungen (z.B. Eßstörungen, Anorexie/Bulimie, Angstneurosen), die eine ständige Beobachtung erforderlich machen
  • Neueinstellung bei dekompensiertem Stoffwechsel, wenn die ambulanten Möglichkeiten, z.B. auch in einer ambulanten Schwerpunkteinrichtung, ausgeschöpft sind oder die ambulanten Einrichtungen aufgrund örtlicher Gegebenheiten oder bei Immobilisation des Patienten nicht erreichbar sind.


Absolute Indikationen zur Klinikeinweisung

Diabetische Ketoazidose BZ > 250 mg/dl und arterieller pH < 7,35, venöser pH < 7,30, Bikarbonat < 15 mmol/l und Ketonurie/Ketonämie
hyperosmolare Stoffwechselentgleisung BZ >= 400 mg/dl und Plasma-Osmoialität >= 315 mosmol/kg und Beeinträchtigung der Vigilanz
Hypoglykämie BZ < 50 mg/dl, wenn Glukosegabe nicht zur Symptombesserung führt, oder Koma, Krampfanfall oder anhaltende Verhaltensstörung durch Hypoglykämie oder, wenn nach behandelter Hypoglykämie in den nächsten 12 Stunden kein verantwortlicher Erwachsener bei dem Patienten bleiben kann, oder durch Sulfonylharnstoff-Präparat verursachte Hypoglykämie

aus dem Positionspapier der ADA (Amerikanische Diabetes Gesellschaft} Diabetes Care 21 11998) 77

 

 

© Fachverband Diabetes Niedersachsen/Bremen, Landesverband der Deutschen Diabetes-Gesellschaft

 


Kommentar

 

 

Kommentar

Die in diesem Statement beschriebene Struktur zeigt erstmals, wie eine sinnvolle Struktur in der Diabetikerversorgung aussehen kann. Hier wird den entsprechend qualifizierten Allgemeinmedizinern ein großes Gewicht in der Behandlung von Diabetikern zuteil, was auch angesichts der hohen Zahl der Diabetiker mehr als sinnvoll erscheint. Damit entspricht dieser Vorschlag zum einen den Interessen der Krankenkassen und gleichzeitig den aktuellsten Forderungen der Gesundheitspolitik. Leider wurde in diesem Programm die Qualitätssicherung weitest gehend ausgeklammert. Hier besteht dringender Nachbesserungsbedarf. Ebenso in einigen Detailfragen in den Häufigkeiten der Kontrolluntersuchungen. Insgesamt ist dieses Papier aber die derzeit beste Strukturbeschreibung. Es bleibt zu hoffen, daß sich nicht nur die Krankenkassen sondern insbesondere die Kassenärztlichen Vereinigungen an der Umsetzung dieses Papiers intensiv beteiligen.
Jens Pursche, DDB LV Bremen

© Jens Pursche, DDB LV Bremen, subkutan 2/1999

 



[ Home | Anfang | Diabetes | Angebote | Informationen | DDB Hannover | DDB Niedersachsen | Diabetes im WWW ]

© copyright Wolfgang Sander  Webmaster@Diabetiker-Hannover.de   letzte Änderung: 15.05.99